Filminterpretation von Antonionis L’avventura
Michelangelo Antonioni: L’avventura
Segment: “Morgendliche Begegnung von Sando und Claudia auf der Insel”
(Einstellung 164 – 178, 0:41:04 – 0:46:09)
“GEHEIMNIS, EROTIK UND GESELLSCHAFTSKRITIK”
Ein Interpretationsversuch
Als eine “schwer fassbare Mischung von Geheimnis, Erotik und Gesellschaftskritik” charakterisiert ein Filmlexikon Michelangelo Antonionis Film “L’avventura” (deutsch unter den Titeln “Das Abenteuer” und “Die mit der Liebe spielen” aufgeführt”). In der Tat zirkuliert der Film um diese Pole, wobei diese Mischung auch für den Rezipienten von heute ihren Reiz besitzt. Obwohl er schon ziemlich “alt” ist, kommt der Film auch bei Oberstufenschülern gut an. Der Film ist aber auch deshalb für eine unterrichtliche Beschäftigung prädestiniert, weil an ihm mustergültig die Dialektik von Filmsprache und Inhalt erfahrbar ist. Beispielhaft soll dies anhand eines fünfminütigen Segments (41. bis 46. Filmminute) nachzuweisen versucht werden, wobei für die Auswahl dieses Segments einerseits dessen Schlüsselfunktion im Rahmen der Handlung spricht (es entwickelt sich eine neue, die Filmhandlung prägende Beziehungskonstellation, deren späterer Ausgang im Segment bereits angedeutet wird), andererseits aber auch der verdichtete Einsatz sinnvoll interpretierbarer filmsprachlicher Mittel. Um möglichst nah am Segment selbst zu arbeiten, werden Aspekte der Bedingungs- und Wirkungsrealität ebenso vernachlässigt wie weitgehend solche, die auf die Beziehungen zur Person des Regisseurs und dessen Werk verweisen. Auch der Film in seiner Gesamtheit soll nur insoweit in den Blickpunkt rücken, wie dies zur Beschäftigung mit dem ausgewählten Segment notwendig ist (zum besseren Verständnis der Analyse und Interpretation sei auf das Filmprotokoll verwiesen, wo die Einstellungen auch bebildert dokumentiert sind).
Doch zunächst eine kurze Zusammenfassung der FILMHANDLUNG: Eine Gruppe junger, dem reichen römischen Bürgertum entstammender Leute unternimmt eine Kreuzfahrt. Während der Fahrt spürt Anna mehr und mehr, dass es zwischen ihr und ihrem Freund Sandro (Gabriele Ferzetti) keine echten Gefühle mehr gibt. Während eines Zwischenaufenthalts auf einer kleinen, unbewohnten Insel verschwindet Anna plötzlich spurlos. Die Suche bleibt zunächst erfolglos, und mit Ausnahme von Sandro und Claudia (Monica Vitti), einer guten Freundin Annas, reisen die Mitglieder der Gruppe ab, um die Polizei zwecks Aufklärung des Verschwindens herbeizuholen. Sandro und Anna hingegen verbringen die Nacht in einer Hütte auf der Insel, um am nächsten Morgen weiter nach der Vermissten zu forschen. An diesem Abend macht Claudia Sandro Vorwürfe bzgl. seines Verhältnisses zur verschwundenen Anna. Das ausgewählte Segment zeigt die Begegnung Sandros und Claudias am folgenden Morgen. Im weiteren Verlauf des Films wird zunehmend deutlicher, dass Sandro sich stärker für Claudia als für seine vermisste Freundin interessiert und er sich eingestehen muss, dass er an einem Auffinden Annas aufgrund der entfachten Gefühle zu Claudia immer weniger interessiert ist. Obwohl auch Claudia offensichtlich an Sandro Gefallen gewonnen hat, weist sie ihn zunächst aus Gründen der Moral zurück, lässt sich aber später auf ihre Gefühle bzw. Sandros Werben ein. Der weitere Film zeigt die sich an verschiedenen Orten in Süditalien abspielende Suche nach Anna, die Sandro und Claudia trotz ihrer Beziehung fortsetzten. Am Ende des Films ist Anna noch nicht gefunden, doch Sandro hat erneut nicht widerstehen können und wird in den Armen einer Prostituierten von Claudia überrascht. In der letzten Einstellung des Film sieht man Sandro weinend auf einer Bank sitzen, und Claudia tritt von hinten an ihn heran und legt ihm eine Hand auf die Schulter.
Unter filmischem Gesichtspunkt auffällig sind vor allem die RELATIV LANGEN EINSTELLUNGEN, die über die zunächst erkennbare Handlung hinaus andauern, wodurch das Segment nach herkömmlichen Beurteilungsmaßstäben als “schlecht geschnitten” erscheint. Es wäre zu vermuten, dass dies nicht zufällig so ist, sondern dass die relative Abwesenheit von Ereignissen bedeutungsvoll ist, und zwar dergestalt, dass das Geschehen sich anstelle auf der Ebene spektakulärer Ereignisse auf einer anderen, die relativen Längen zur Voraussetzung habenden Ebene vollzieht.
Diese Ebene ist v.a. die INHALTLICHE EBENE. Im Segment wird die Hilflosigkeit von Sandro und Claudia angesichts des Verschwindens Annas und die Kommunikationsunfähigkeit beider dargestellt, wobei trotz des gegenseitigen Unverständnisses zwischen beiden Personen Momente der Zuneigung deutlich werden. Für Sandro ist dies eindeutig in Einstellung 176 (Handhalten) nachweisbar; die in derselben und der folgenden Einstellung deutlich werdende Reaktion Claudias lässt zumindest nicht auf krasse Ablehnung schließen. Die beiden Personen können – wie im Fortgang des Films deutlich wird und sich in diesem Segment bereits abzeichnet – letztenendes nicht zueinander finden: zwar gelingt es ihnen, die Schranken ihrer Moral zu überwinden (beide sagen sich auf jeweils ihre Weise von der verschwundenen Anna los), doch das Aus-Leben der im weiteren Verlauf des Films beiderseitig eingestandenen Gefühle gelingt angesichts der in der Person Sandros manifestierten Kontaktlosigkeit des modernen Menschen und seiner Unfähigkeit zu dauerhaften Gefühlen (womit gleichzeitig das zentrale Thema der Antonionischen Filme berührt wird) nicht. Die damit gegebene schwächere Position Sandros (als Mann) gegenüber Claudia (als Frau) wird im Film auf verschiedenen Ebenen deutlich: Claudia ist nicht nur in Einstellung 164 (am Ende), Einstellung 165 und Einstellung 178 Sandro in der Vertikalen überlegen (in Einstellung 165 auch durch die relative Abwendung Claudias: es ist Sandro, der sich ihr zuwendet), sondern sie ist dies auch dadurch, dass sie z.B. in Einstellung 168 den bis dahin gemeinsam eingenommenen Standort als erste verlässt und Sandro ihr anschließend folgt (ähnliches gilt für die Bewegungen der Personen in Einstellung 172, Einstellung 177 und Einstellung 178). Dieses räumliche Weggehen Claudias von Sandro ist auch inhaltlich als Weggehen zu interpretieren, was besonders in Einstellung 168 und Einstellung 172 deutlich wird: während Claudia den gemeinsamen Standort in Einstellung 168 vermutlich deshalb verlässt, weil sie angesichts der unterschiedlichen Umgehensweise mit dem Verschwinden Annas nichts mehr von Sandro erwartet, wendet sie sich in Einstellung 172 ab, weil Sandro offenbar durch die Ausführungen des Fischers (den er vielleicht nur deshalb fragt, um Claudia zu gefallen, worauf das herrische Auftreten gegenüber dem Fischer hindeuten könnte) einer Erklärung des Verschwindens nicht näher gekommen ist – auch hier hat sie nichts mehr zu erwarten. Die Überlegenheit Claudias wird ferner deutlich in ihrer schon oben angedeuteten unterschiedlichen Haltung zum Verschwinden Annas: während Claudia die Schuld bei sich selbst sucht (Einstellung 165), gibt Sandro, nachdem er sich zunächst narzistisch nach dem ihm von Anna beibemessenen Stellenwert erkundigt hat, letztenendes Anna selbst die Schuld, welche die ihr entgegengebrachte Zuneigung nicht zu würdigen gewusst habe. Die damit deutlich gewordene inhaltliche Unterschiedlichkeit der Charaktere der beiden Personen wird in diesem Segment exemplarisch dargelegt, womit dem Segment auch die Funktion zukommt, das sich am Schluss des Films offenbarende Scheitern der Beziehung (oder im Falle einer optimistischen Interpretation des Handauflegens: des Beziehungsabschnittes) vorauszudeuten.
Die Unterschiedlichkeit der Charaktere, das Nichtzueinanderfindenkönnen wird jedoch nicht nur im bereits vorstehend Ausgeführten deutlich, sondern auch filmsprachlich in einer zum Inhalt adäquaten Form dargelegt. Antonioni benutzt in diesem Segment “OBSESSIVE EINSTELLUNGEN” (Pier Paolo Pasolini), d.h. Einstellungen, in die die Personen hinein- oder heraustreten, wobei zwischen diesen Bewegungen und dem Anfang bzw. Ende der Einstellung verhältnismäßig viel Zeit vergeht (besonders deutlich in Einstellung 168, aber auch in Einstellung 170, 171, 172, 173, 177 und 178 erkennbar). Diese “obsessiven Einstellungen” haben im Oeuvre Antonionis folgende Funktion: entweder verweist die damit gegebene Dominanz der (zeitlich vor dem Eintreten bzw. nach dem Heraustreten der Personen existenten) Umwelt darauf, dass die Personen die Umwelt nicht verändern wollen oder können, oder (genauer: und/oder) die Personen werden umgekehrt durch diese Umwelt definiert. Beide Bedeutungsebenen scheinen auch in den “obsessiven Einstellungen” dieses Segments nachweisbar zu sein. Die erste Ebene wurde bereits oben thematisch angerissen in Gestalt des Scheiterns des Aufeinanderzugehens der Protagonisten, das besonders im relativ ziellosen Herumlaufen auf der Insel deutlich wird. Einerseits dienen diese Bewegungen der Suche nach Anna, andererseits wird diese Ebene jedoch verlassen: wenn etwa Claudia in Einstellung 168 zur hinteren Klippe geht, dann sucht sie nicht primär Anna, sondern dann wird damit eher Claudias und Sandros mangelnde Fähigkeit zur Verständigung dargestellt, wobei anzunehmen ist, dass Antonioni diese Art der Entfremdung als eine solche der Gesellschaft, der Umwelt begreift. Die andere Ebene, die der Definition der Personen durch die Umwelt, erfordert zunächst eine Vergegenwärtigung der konkreten Umwelt. Es handelt sich um eine karge, kahle Insel, die als Symbol für die Gesellschaft fungiert: Das Kahle, Kalte und Feindselige der Insel, das nicht nur visuell, sondern auch in Form von Naturgeräuschen im gesamten Segment als Atmo-Ton präsent ist, stellt die Isolation, die Leere und Nutzlosigkeit der Inselbesucher dar, die somit durch die Umwelt der Insel charakterisiert werden.
Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass die in der Eingangshypothese formulierte Annahme, nämlich dass die relativ langen Einstellungen und die vergleichsweise geringen Handlungs- und Dialogelemente inhaltlich begründet sind, verifiziert werden kann.
Im folgenden sollen einige benutzte ästhetische Gestaltungsmittel näher betrachtet werden, was teilweise zu einer Abstützung der oben vorgetragenen interpretatorischen Bemühungen führen wird.
Hinsichtlich der EINSTELLUNGSGRÖSSEN fällt auf, dass – zeitlich gesehen – Totalen sehr stark vertreten sind, andererseits Großaufnahmen völlig fehlen. Die Totalen, z.T. unterstützt durch Weitaufnahmen, finden primär ihre Begründung in dem Bemühen, die innere Einsamkeit der Personen durch ihre räumliche Vereinsamung im Umfeld der Insel darzulegen. Besonders deutlich wird dies am Ende von Einstellung 164 (s.u.), Einstellung 168 (Claudias Gang auf die Klippe), Einstellung 171 (Fischer kommt Abhang herauf, ist kaum wahrnehmbar) und Einstellung 172 (Sandro krabbelt ameisenähnlich den Berg hinauf). Ein weiterer möglicher Begründungsaspekt könnte der sein, dass durch die weiten Einstellungsgrößen und die damit verbundene Entfernung zum Motiv (KAMERASTANDPUNKT) auch IDENTIFIKATIONSMÖGLICHKEITEN für den Zuschauer verstellt werden sollen, was auch den Verzicht auf Großaufnahmen erklären würde. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Antonioni am Ende von Einstellung 164 den Dialog zwischen Sandro und Claudia noch in der Totalen beginnen lässt und nicht – wie es gemäß klassischen Regeln üblich wäre – in einer näheren Einstellungsgröße. Zu Beginn von Einstellung 165 werden dann auffälligerweise nicht beide Personen in einem Bild gezeigt, sondern nur Sandro wird in einer Nahen präsentiert (Claudia bleibt zunächst auch bei ihrer Antwort im Off). Das damit gegebene Identifikationsangebot bzgl. Sandro wird am Ende von Einstellung 168 bekräftigt, und zwar als durch das Insbildtreten Sandros aus der Totalen eine Großnahe wird; inhaltlich kann diese Identifikationsmöglichkeit vom Zuschauer jedoch kaum angenommen werden, da Sandro sich in diesem Segment als der Unterlegene erweist, der ständig Claudia folgt. Dem Umstand, dass Claudia hier die stärkere von beiden ist, korrespondiert jedoch kein formales Identifikationsangebot: (Teil-) Einstellungen wie für Sandro in Einstellung 165 und Einstellung 168 fehlen bzgl. Claudia, und außerdem gibt es im Segment keine Einstellung, in der nur sie auftritt (gleiches gilt für Sandro; nur der Fischer, der dafür aber kaum wahrnehmbar ist, besitzt mit Einstellung 171 eine eigene Einstellung). Lediglich Einstellung 175 und Einstellung 177 bieten potentielle Identifikationsmöglichkeiten, als Claudia in einer Großnahen relativ frontal zur Kamera zu sehen ist, doch auch hier wird kein konkretes Identifikationsangebot gemacht, da beide Einstellungen relativ kurz sind und zudem Claudias Gesichtsausdruck nicht gerade einladend ist.
Die beiden letztgenannten Einstellungen sind noch unter zwei anderen Aspekten interessant: Erstens hinsichtlich der KAMERAPERSPEKTIVE. Zwar gibt es weitere Einstellungen, in denen von der Normalen (Augenhöhe) abgewichen wird, doch während die Auf- und Untersichten sonst durch die Landschaft im Zusammenhang mit dem gewählten Kamerastandpunkt bedingt sind und die Personen in ziemlicher Entfernung zeigen, werden in Einstellung 174 bis 177 beide Personen in Großnahen präsentiert. Der Umstand, dass Claudia jeweils höher als Sandro angeordnet ist und letzterer in den Einstellungen 175 und 177 der Kamera auch noch den Rücken zukehrt, könnte darauf hindeuten, dass Claudia auch in dieser Situation die Oberhand behält. Der zweite Aspekt, der diese Einstellungsfolge interessant erscheinen lässt, nämlich der der KAMERA- UND HANDLUNGSACHSE, relativiert das Zuvorgesagte jedoch: Der Achsensprung zwischen den Einstellungen 175 und 177 (in Einstellung 175 steht die Kamera links von Sandro, so dass Claudia links von ihm ins Bild kommt; in Einstellung 177 erscheint Claudia aufgrund der rechts von Sandro positionierten Kamera jedoch im rechten Bildteil), der von Antonioni sicherlich bewusst vollzogen wurde, könnte auf eine Verwirrung Claudias angesichts der gerade durch Sandros Verhalten zum Ausdruck gekommenen Zuneigung ihres männlichen Gegenspielers hindeuten und damit die zuvor behauptete Dominanz relativieren. Ansonsten ist hinsichtlich der Achsenverhältnisse zu bemerken, dass Kamera- und Handlungsachse nie identisch sind und sich die Kamera immer sehr von den Personen distanziert. So ist in Einstellung 165 trotz teilweise frontaler Stellung Claudias und Sandros zur Kamera keine Identität feststellbar, und auch bei der Kamerafahrt am Ende von Einstellung 172 hält die Kamera aufgrund der gewählten Form als seitliche Rückfahrt Sandro auf Distanz. Somit kann insgesamt hinsichtlich des HANDLUNGSBEZOGENEN KAMERABLICKWINKELS von einer narrativen Kamera gesprochen werden; lediglich Einstellung 166 könnte als subjektive Kamera im Zusammenhang des Suchens nach der Quelle des Motorgeräusches gedeutet werden,
schafft aber auch keine Identifikationsangebote.
Auffällig ist ferner, dass unter den KAMERABEWEGUNGEN die für Antonioni ansonsten typischen Fahrten bis auf die eben genannte fehlen. Dass die Bilder dennoch nicht statisch sind, liegt an den häufigen Schwenks sowie an den teilweise die Kamerafahrten ersetzenden Bewegungen der Personen im Raum, wodurch PLANSEQUENZEN geschaffen werden. Bei Konstatierung des Kriteriums, entweder überdurchschnittlich lange zu dauern (Zeit) und/oder mittels Kamerabewegungen das Erschließen neuer Aussagen zu erlauben (Inhalt), sind folgende Einstellungen als Plansequenzen ausgewiesen: Einstellung 164 (Zeit und Inhalt), Einstellung 165 (Zeit), Einstellung 168 (Zeit, besonders aber Inhalt) und Einstellung 173 (Zeit). Da das zeitliche Moment qua Einstellungslänge exakt definiert ist, braucht hier nur begründend auf Einstellung 164 und Einstellung 168 eingegangen werden. In Einstellung 164 wird zunächst das Meer und ein Teil der Klippen gezeigt, dann tritt Sandro ins Bild, die Kamera begleitet ihn mittels eines Schwenks und verharrt dann, wenn er sich auf einen Felsen setzt, im Stand, um dann nach Sandros Aufstehen ihn erneut mittels Schwenk zu begleiten, bis schließlich Claudia ins Bild tritt. Während der Anfang der Einstellung auf das Verschwinden Annas, deren mögliches Ertrinken und auch auf die Abgeschiedenheit der Insel verweist, wird durch das Eintreten Sandros ein Bezug zu den auf der Insel verweilenden Personen hergestellt, der dann durch das Erscheinen Claudias konkretisiert wird, wobei zugleich der schon am Vorabend bestehende Konflikt zwischen Sandro und Claudia nicht nur optisch, sondern auch auf der Dialogebene aufgegriffen wird. In Einstellung 168 folgt dem noch im Kontext der Suche nach der Quelle des Motorgeräuschs stehenden Schwenk über die Klippen und das Meer die schon oben interpretierte Bilddurchquerung Claudias, woran sich das Insbildtreten Sandros anschließt, welches wiederum die Orientierung Sandros auf Claudia bzw. die Distanz zwischen beiden betont.
Den – bei insgesamt 15 Einstellungen des Segments – häufig vorkommenden Plansequenzen stehen drei besonders kurze Einstellungen gegenüber, nämlich Einstellung 174 bis Einstellung 176, die nur maximal 15% der durchschnittlichen SCHNITTFREQUENZ von 20,3 Sekunden dauern. Hinsichtlich der FORMALSPANNUNG ist damit auch zu konstatieren, dass sich diese (soweit Aussagen in Bezug auf nur ein Segment überhaupt sinnvoll erscheinen) nicht aus einer hohen Schnittfrequenz herleitet, sondern eher durch Kamerabewegungen, durch das Agieren der Personen und den inhaltlichen Prozess zwischen Sandro und Claudia bedingt ist. Die qua Schnittfrequenz erfolgte Betonung der Einstellungen 174 bis 177, die noch dadurch gesteigert wird, dass die Einstellungen 175 und 177 Gegenschüsse zu den Einstellungen 174 und 176 sind, könnte erklärt werden durch die Vermutung, dass dadurch, dass Sandro die Ebene des Hinterherlaufens und Beobachtens (Einstellung 173) verlassen hat und nunmehr sein Interesse handelnd zum Ausdruck bringt, für Claudia Sandros Hinwendung nun endgültig deutlich werden lässt. Das Interesse Sandros an Claudia wird dem Zuschauer zudem über die Ebene der MUSIK verdeutlicht, die als dezente Klarinettenmusik bereits in Einstellung 172 einsetzt, und zwar als Sandro wiederum Claudia folgt, um sie anschließend zu beobachten; bezeichnenderweise bricht die Musik ab, als sich die beiden Schiffe der Insel nähern und damit die temporäre Abgeschiedenheit durchbrechen. Neben den eben genannten Schuss-Gegenschuss-Montagen lässt sich unter dem Aspekt der MONTAGE auf die bereits thematisierten Plansequenzen als innere Montage verweisen. Die SCHNITTE sind relativ hart, was z.T. durch die bereits genannten Gegenschüsse und Achsenwechsel, aber auch durch den extremen Wechsel der Einstellungsgrößen bedingt ist. So folgt z.B. auf die Totale am Ende von Einstellung 164 eine Nahe, die wiederum von einer Weitaufnahme abgelöst wird, um dann ihrerseits von einer Nahen verdrängt zu werden, der dann wieder eine Totale in Einstellung 168 folgt usw. Weiterhin ist unter dem Gesichtspunkt des Schnitts hervorzuheben, dass das analysierte Segment vom folgenden durch eine Überblendung formal getrennt wird; die Abgrenzung gegenüber dem vorangehenden Segment erfolgt hingegen durch einen normalen Schnitt.
Hinsichtlich der sonstigen Gestaltungsmittel ist bezüglich des Aspekts des RAUMES nicht nur darauf zu verweisen, dass Antonioni in Einstellung 178 Rückenfiguren zur Schaffung von Raumtiefe einsetzt, sondern v.a. ist zu konstatieren, dass unter Benutzung einer großen Tiefenschärfe die Tiefe des Raums für das Handeln der Personen extrem ausgenutzt wird, was v.a. auch durch das gewählte Breitwandformat ermöglicht wird. Diese Nutzung der Bildtiefe ist z.B. gut in Einstellung 168 nachweisbar, wo die räumliche Distanz zwischen Sandro und Claudia auch deren innere Distanz zum Ausdruck bringt. Einstellungen wie diese lassen unter dem Gesichtspunkt der KOMPOSITION denn auch in die Raumtiefe führende Diagonalen signifikant werden, wobei erneut auf die zuvor angeführte Einstellung 168 verwiesen werden kann. Unter dem Aspekt des LICHTS ist eine geringe Lichtintensität verbunden mit diffusem Licht festzustellen, was den Ort – der schon oben als Symbol interpretiert wurde – als abstoßend, nicht integrativ, vereinzelnd und isolierend charakterisiert, was wiederum symbolhaft auf die Beziehung zwischen den Personen verweist.
Wenngleich eine Analyse natürlich noch mehr in die Tiefe gehen und die eingangs genannten ausgeklammerten Aspekte berücksichtigen könnte, so scheint mir dennoch durch die vorstehenden Ausführungen der Beleg erbracht zu sein, dass die besprochene Sequenz in beispielhafter Weise das Aufeinanderbezogensein von filmästhetischen Mittel und inhaltlicher Aussage erfahrbar werden lässt. Unter didaktischem Aspekt ist ferner hervorzuheben, dass der Film zumindest einige der grundlegenden Probleme des menschlichen Seins thematisiert und damit SchülerInnen bei ihrer Standortbestimmung und in ihren Bemühungen um Identitätsfindung Reflexionsangebote machen kann. Eine Analyse und Interpretation des Gesamtfilms, die hier nicht Gegenstand der Fragestellung war, hätte diesen Aspekt noch verstärkt zu verdeutlichen.
Literatur:
- anon.: Die mit der Liebe spielen, in: Film-Dienst, H. 9/61
- Antonioni, Michelangelo: Die Krankheit der Gefühle, in: Kotulla, Theodor (Hrsg.): Der Film. Manifeste – Gespräche – Dokumente, Bd. 2, München 1964, S. 83-110
- Chatman, Seymour u. Guido Fink (Hrsg.): L’avventura. Michelangelo Antonioni, director. (Drehbuch), New Brunswick/USA 1989 (= Rutgers film in print, Bd. 12)
- Gerhold, Hans: Die Filmsprache der Gefühle. Zum 70. Geburtstag von Michelangelo Antonioni, in: Film-Dienst, H. 19/82, S. 5-8
- Jansen, Peter W. u. Wolfram Schütte (Hrsg.): Michelangelo Antonioni, München o.J. (= Reihe Film, Bd. 21)
- Kock, Bernhard: Michelangelo Antonionis Bilderwelt. Eine phänomenologische Studie, München 1994 (= Diskurs Film, Bibliothek, Bd. 8)
- Leprohon, Pierre: Michelangelo Antonioni. Der Regisseur und seine Filme, Frankfurt 1964
- Reisz, Karel u. Gavin Millar: Geschichte und Technik der Filmmontage, München 1988, S.243-250
(Anm.: Reisz/Millar verdanke ich den Hinweis auf das gewählte Segment – der dort befindliche Analyseansatz motivierte mich zu einer Vertiefung.) - rob / pat (= Enno Patalas): Die mit der Liebe spielen, in: Filmkritik, H. 7/60
- Salje, Gunther: Antonioni, Regieanalyse – Regiepraxis, Vorlesungstexte mit Übungsaufgaben zum Drehbuchschreiben, 2 Bde., Röllinghausen 1994 (= Reihe Praxisstudium Film/Fernsehen)